Die Geheimnisse der weißen Villen von Binz auf Rügen

Von indischen Toiletten, Marmorbrüsten und Etagenschnäpsen

Hochzeitspavillon
Hochzeitspavillon

Das dunkelgrüne Cabrio rollt im Schritttempo über die Binzer Strandpromenade. Autofreaks machen große Augen. Denn das Prachtexemplar – ein Citroen, Baujahr 1926, 20 PS – ist ein seltenes Schmuckstück. Cineasten sind eher an dem Paar interessiert, das im Oldtimer steht und den Spaziergängern huldvoll wie Königs zuwinkt. Das sind doch... na ja, zumindest sehen sie aus wie Willy Fritsch und Lilian Harvey, das Leinwand-Traumpaar der 20er Jahre.

 

Das betagte Fahrzeug mit den blankgewienerten Chromgriffen hält vorm Dünenhaus neben einem Klavier, das am Rande der Promenade „geparkt“ hat. Ein Pianist greift in die Tasten. „Ein Freund, ein guter Freund...“ Dazu tanzen Zimmermädchen, Empfangschef und weiteres „Personal“ zur Begrüßung der „prominenten“ Gäste.

Die kleine Schauspielszene eines Rügener Theater-Ensembles erinnert an einen Binz-Besuch der beliebten UFA-Stars im Jahre 1930. Fritsch und Harvey, die offiziell ja nur Kollegen waren, verbrachten damals heimlich gemeinsame Urlaubstage im „Dünenhaus“.

 

Villa Haiderose, Deko für Spielszene
Villa Haiderose, Deko für Spielszene

Aber dieses kleine Promi-Schmankerl ist längst nicht das einzige Geheimnis, das sich hinten den Mauern der rund 50 wunderschönen weißen Villen von Binz verbirgt. Jede einzelne hat ihre Geschichte. Spannend, romantisch, tragisch, faszinierend. Alljährlich im September, dem „Monat der Bäderarchitektur“, können Besucher einen Blick hinter die Fassaden werfen und das eine oder andere Geheimnis ergründen. Da gibt es Vorträge und Veranstaltungen, Ortsführungen, Bilderausstellungen und – als Sahnehäubchen – die „offenen Türen“ am letzten Wochenende des Monats unter dem Motto „Hereinspaziert in die Villen“.

 

Unter der Führung einer echten Rüganerin oder eines echten Rüganers (Zugezogene sind schnöde Rügener) schlendern Gästegruppen von einer Bäderarchitektur-Schönheit zur anderen, bewundern verspielt verzierte Fassaden, offene Veranden, Balkone und Loggien, kecke Türmchen und geschwungene Freitreppen. Sie spazieren durch lichtdurchflutete, modern eingerichtete Zimmer, erfahren, dass die Zeit der „indischen Toiletten“ (rechts und links des Ganges) endgültig der Vergangenheit angehört, erleben humorvoll inszenierte Spielszenen und werden häppchenweise mit Informationen über das Seebad Binz, seine Bewohner oder auch mit hausgemachtem Walnusskuchen (im Haus Klünder) gefüttert.

Stadtführerin Marita Boy kennt jeden Stein, jede Anekdote und die Mentalität der Binzer. Sie erzählt: „Früher bauten die Insulaner nicht direkt am Meer, aus Angst und Respekt vor der Naturgewalt. Noch heute wohnen fast alle Einheimischen in der zweiten Reihe.“ 

 

Historische Führung
Historische Führung

Die Villen an der Strandpromenade sind für die Urlauber gebaut. Wenn mal das Meer kommt, kriegen erst die Gäste nasse Füße


 

Das Bad im Meer gilt noch gar nicht so lange als willkommene Erfrischung. 1884, als Binz zum Seebad erklärt wurde, fuhren die ersten Urlauber noch mitsamt Kutsche ins flache Wasser, ließen nur kurz ihre Waden vom Wasser umspielen, um sich dann flugs mit „huch“ und „hach“ wieder auf die sicheren Sitze zu retten.

Die Geheimnisse der weißen Villen sind untrennbar mit der „Aktion Rose“ verbunden der Enteignungswelle der DDR im Februar 1953. Damals wurden rund 400 privat geführte Pensionen und Hotels an der Ostseeküste und auf den Inseln unter fadenscheinigen Gründen beschlagnahmt und zum „Eigentum des Volkes“ erklärt. 

Erst nach der Wende kamen einige ehemaligen Besitzer bzw ihre Nachkommen im Zuge der Rückübertragung wieder in den Besitz der inzwischen morbiden und heruntergekommenen Häuser. Einer von ihnen ist Michael Gronegger, dessen Mutter Alwine Klünder 1905 eine weiße Villa an der Strandpromenade hatte bauen lassen. Zusammen mit seiner Frau Ingeborg beschloss der Banker, die baufällige Immobilie wieder instand setzen zu lassen und dort Ferienappartements einzurichten. Überraschung bei der Renovierung: ein alter Weinkeller im zugemauerten Gewölbe unter dem Haus. Heute stellt der Hausherr dort den wahrscheinlich größten Bernstein Deutschlands aus.

Gleich nebenan steht die prächtige Villa Sirene


„Fällt Ihnen an der Figur dort oben auf dem Dach etwas auf?“ fragt Frau Boy ihre Gäste und dreht neckisch den Sonnenschirm, der ihre historische Tracht ergänzt.

„Die hat einen Dreizack und kräftige Oberarme, aber auch einen Busen“, hat eine Dame aus dem Ruhrpott erkannt. Genau! Die Ortsführerin erzählt schmunzelnd vom ehemaligen Besitzer-Ehepaar, das sich partout nicht darüber einigen konnte, was für eine Figur den Dachfirst der noblen Villa zieren sollte. Er wollte einen Poseidon, sie eine Nixe. Der Hausherr setzte sich durch. Auf dem Dach thronte alsbald ein Meeresgott mit muskulösen Oberarmen, Vollbart und Dreizack.

Doch die Gattin hatte das letzte Wort. Typisch Frau! Sie ließ das Kunstwerk heimlich umgestalten. Bart ab, Busen dran. Manchmal ist es so einfach...

Kulinarische Erinnerungen bietet u. a. das Hotel Villa Salve von Regine und Harald Schewe. Am historischen Abend – es gibt Consommé von Strauchtomaten mit frischen Gartenkräutern, Tranchen vom rosa Roastbeef mit Speckbohnenbündchen und Pastinaken-Kartoffel-Püree sowie Grießflammerie auf marinierten Beeren – wird mit historischen Kostümen und Anekdoten aus der Geschichte des Hauses die Vergangenheit lebendig. Der Abend klingt an der Bar beim Coleur- oder auch Etagenschnaps aus. 7 Etagen sind die Höchstleistung, sagt der Barkeeper. Doch sein Favorit hat nur drei Etagen (grün, weiß, gelb) und ist eine Homage an Nelson Mandela und seine Lieblings-Rugby-Mannschaft, die Springboks

 

Etagenschnaps
Etagenschnaps

Welchen Etagen-Drink Angela Merkel als Absacker schätzt, wird nicht verraten, nur ihr Lieblings-Menü: Steinbutt, gebraten auf der Haut, mit grünem und weißem Spargel. Kann man ruhig glauben. Denn unsere Kanzlerin ist Stammgast in der Villa Salve, war sogar schon mit Staatsgästen wie Präsident Hollande und dem norwegischen Thronfolgerpaar Haakon und Mette-Marit hier. Meistens unbemerkt und ohne Aufsehen. Denn auf Binz ist Diskretion Ehrensache.