Regen prasselt auf das Dach der Caprice, der Sturm zerrt an den Leinen, der Fluss tobt. Nein, so hatte ich mir unseren Hausboot-Urlaub nicht vorgestellt! Im Gegenteil. Ich sah mich doch in Gedanken mit Shorts und T-Shirt an Deck sitzen, eine kühle Weinschorle zur rechten, ein gutes Buch zur linken, liebliche Landschaften still vorüber ziehend. Entschleunigung nach Maß! Schon mal vorab: Es kam alles ganz anders. Aber auch das sei schon jetzt verraten: Es war eine wunderbare, erholsame Woche. Trotz Regen, Sturm und aufregenden Situationen, die Adrenalin zu einem ständigen Begleiter machten.
„Das sieht gar nicht gut aus“, sagt Rick und legt die Stirn unter der blauen Strickmütze in Falten. „Für morgen kündigt der Seewetterdienst Sturm an. Windstärke acht oder neun – Beaufort.“
Rick ist Mitarbeiter bei Le Boat und weist uns in der Marina von Nieuwpoort/Belgien in die Geheimnisse eines Hausbootes ein. Wir – das sind meine Freundin und Kollegin Eli, mein Mann Olaf, den wir als „Kapitän“ angeheuert haben, und ich, Reisejournalistin aus Hamburg und immer auf der Suche nach interessanten Themen, gern auch mit einer Prise Abenteuer. Dass wir davon ausgerechnet auf unserer gemütlichen „Städtereise mit dem Hausboot“ etliche erleben werden, ahnen wir jetzt noch nicht.
Olafs seemännische Ausbildung ist gut 40 Jahre her, Eli und ich haben – ehrlich gesagt – null Ahnung. Aber für diese Hausbootfahrt ist kein Führerschein erforderlich. Nur eine ausführliche Einweisung. Sorgfältig erklärt uns Rick die Technik an Bord, zeigt uns, wie wir die Leinen um die Klampen legen müssen, wo Wasserschlauch und Stromkabel sind, sagt, worauf wir vor Schleusen und Brücken achten müssen. Nach zwei Stunden brummt uns der Schädel. Wie gut, dass die Probefahrt erst am nächsten Morgen stattfindet.
Zunächst einmal gewöhnen wir uns an unsere schwimmende Ferienwohnung: zwei geräumige Doppel-Kabinen, jeweils mit WC und Dusche, eine Küche mit Gasherd, Kühlschrank und Mikrowelle, ein Salon mit Tisch, zwei Sesseln und gemütlicher Sitzecke, zwei Steuerstände (einer innen, einer außen).
Am anderen Morgen freuen wir uns, dass wir Regenzeug eingepackt haben. Es schüttet wie aus Kübeln. Nach ein paar Proberunden unter Ricks Anweisung starten wir bei Regen und Sturm in Richtung Brügge. Eine Strecke, wie geschaffen, um Anlegemanöver zu üben. Denn insgesamt sind 16 Brücken und zwei Schleusen zu bewältigen. Das heißt: 18 mal Anlegen, Festmachen, Warten, bis sich die Brücke öffnet, dann Leinen los, Ablegen. Adrenalinschübe im Dreivierteltakt. Aber es übt. Bald fühlen wir uns wie echte Seeleute.
Die einzige Schock-Situation: Zwischen Distelbrug und Zandvoordebrug erfasst eine Sturmböe eines der Fahrräder auf dem Vorderdeck und katapultiert es mit solcher Wucht über die Reling, dass auch das Schloss es nicht halten kann. Hilflos müssen wir mit ansehen, wie das Rad im aufgewühlten Fluss versinkt. Adios!
Irgendwann hört der Regen auf, und der Sturm braust nicht mehr gar so heftig. Wir frohlocken. Vielleicht schaffen wir es ja noch bis Brügge! Aber da macht der Brückenwärter der Scheepsdaelebrug nicht mit.
Er setzt seine eindrucksvolle Kippbrücke erst am nächsten Morgen wieder in Bewegung. Leider sind die beiden Anlegeplätze davor belegt, und auch während unserer Fahrt zurück bis zur zuletzt passierten Brücke – deren Wärter inzwischen auch den Feierabend genießt – finden wir nicht einen einzigen Poller. Was machen Hausboot-Profis in so einem Fall? Wir Laien sichern unser Schiff für die Nacht an einer Laterne und einem Baum am Ufer. Geht auch. Sogar prima. Und wer hätte gedacht, wie kuschelig es in der „guten Stube“ dieses Schiffes ist, wenn draußen ein Unwetter tobt und drinnen die Heizung brummt, der Teekessel pfeift, und wir uns beim Trivial Pursuit in die Haare kriegen.
Aber was, wenn uns jemand nachts die Leinen kappt, weil zwischen Laterne und Baum das Anlegen verboten ist? Ich schlafe unruhig.
Am nächsten Tag bewältigen wir die vielen Brücken rund um Brügge und legen im Yachthafen Flandria an. Unser Liegeplatz ist nur zehn Gehminuten vom historischen Stadtzentrum entfernt. Eine Altstadt wie aus dem Bilderbuch: Pferdekutschen rollen über Kopfstein-Gassen, Treppengiebel-Häuser säumen Straßen und Kanäle, Dutzende Restaurants laden zur Einkehr und ebenso viele Geschäfte zum Pralinen-Kauf ein. Abends ist die Altstadt romantisch beleuchtet. Besonders eindrucksvoll: der große Burgplatz mit Heilig-Blutbasilika, Rathaus, Alter Kanzlei und Propstei.
Bis Gent, unserem zweiten Städte-Ziel, ist der Wasserweg fast brückenfrei. Entspannt schippern wir die rund 40 Kilometer auf dem breiten Kanal. Ab und zu begegnen wir einem Berufsschiff, manchmal kreuzen Kanuten unseren Weg. Auf einem idyllischen Kanal fahren wir langsam zur Lindelei-Marina in der Altstadt. Eli und ich springen von Bord, legen die Leinen um die Poller, springen zurück und machen das Schiff fest. Locker und routiniert. Scheinbar.
Nach einem Stadtbummel und Mittagessen im Straßenrestaurant sitzen wir abends in unserem gemütlichen Salon und blicken bei einem Glas Wein auf die beleuchteten Altstadthäuser am Kanal. Romantik pur.
Die nächste Etappe hatte uns Rick besonders ans Herz gelegt. Denn sowohl die Natur als auch die luxuriösen Villen am Ufer der Leie, auch „Goldener Fluss“ genannt, sind etwas ganz Besonderes. Man könnte fast vermuten, dass der Beiname in direktem Zusammenhang mit den Millionärs-Grundstücken steht. Stimmt aber nicht. Er geht auf eine Sage zurück, in der die Frauen ihr Leinen im Fluss wuschen, bis es golden schimmerte.
Mit Minimalgeschwindigkeit tuckert die Caprice auf den Windungen und Schleifen der Leie durchs Naturparadies. Ab mittags beobachten wir im T-Shirt süße Entenfamilien und stolze Graureiher im Sonnenlicht.
In der schönen Marina von Deinze heben wir zum ersten Mal die beiden verbliebenen Fahrräder von Bord. Eli und ich wollen die Gegend erkunden – und treten schon bald vor Verwunderung in die Bremsen. Direkt neben der Marina beginnt ein liebevoll angelegtes Rekreationszentrum mit Tierpark, Sportanlagen, Abenteuerspielplätzen. In der Abendsonne kurven wir hin und her, auf Mulche-belegten Wegen um einen See herum, vorbei an Rehen, Emus und Eulen. Ein kleines Paradies!
Nach einem gemütlichen Frühstück unter – man höre und staune - blauem Himmel (!) wollen wir am nächsten Morgen die Rückreise antreten – und laufen in der ersten Kanalbiegung auf Grund. Wie wir später erfahren, gibt es hier eine Sandbank, die durch die Wellenbewegung großer Schiffe wandert. Glückwunsch! Wir haben sie gefunden. Wir ruckeln und schuckeln, versuchen, uns mit der Schiffsstange vom Boden abzustoßen. Vergebens. Die Rettung naht in Form zweier großer Berufsschiffe, deren Bugwellen unsere Caprice wieder in Schwung bringen. Wenn man bedenkt, dass wir bis zum Nachmittag kurz vor Brügge nicht einem einzigen Schiff mehr begegnen, haben wir richtig Glück gehabt.
Nach einem weiteren Besuch in Brügge, diesmal mit Liegeplatz in der Coupure Marina mitten in der Altstadt, und einer entspannten Rückfahrt bei bestem Wetter durch die nun schon bekannten Brücken und Schleusen landen wir nach einer Woche wieder in Nieuwpoort.
Trotz des „schlechten“ Wetters braungebrannt, super gut erholt, total relaxed und als echte Hausboot-Fans. Olaf will jetzt den Sportboot-Führerschein machen. Man weiß ja nie...